Michelle Reznicek
Briefe an Madeleine- Kurzgeschichte

Zeit ist manchmal etwas Surreales. Manchmal schleicht sie arglos dahin, andere Male rast sie vorbei.
Diese Woche ist unbemerkt vorbeigesaust.
Ich könnte eine Menge sagen, zu all dem Sinn und Unsinn der zur Zeit gerade so passiert. Z.B. darüber das die Tourismusbranche laut brüllt: man solle dringend verreisen. Und dass man die Reise kostenlos stornieren könne. Lustig anstatt mit der Reise, damit Werbung zu mache, dass man sie nicht macht. Sie brauchen die traumhaften Sandstrände nicht zu sehen – keine Sorge.
Doch alles was man sagen kann, ist so oft schon gesagt worden und ich möchte das blöde Wort mit C – einfach einmal nicht benützen.
Lieber erzähle ich euch von einer Geschichte.
Letztes Jahr habe ich an einem Schreibwettbewerb teilgenommen.
Wer sich schon einmal das Vergnügen gemacht hat, weiss vielleicht, dass man ca. 10 Stufen durchläuft bei so seinem Projekt. Reihenfolge und Wiederholungen variieren.
1 – entdecken des Wettbewerbes – abschätzen der Zeit – entschliessen zur Teilnahme.
2 – Geschichte verfassen
3 – sich übers Tema ärgern – Geschichte trotzdem verfassen
4 – Überarbeitung
5 – Überarbeitung der Überarbeitung
6 – Beschluss das Projekt abzuschicken
7 – Beschluss den Text doch nicht einzureichen
8 – der Beschluss das der Text Mist ist
9 – Beschluss, dass es egal ist, man das Ganze schon geschrieben hat und den Text abschicken
10 – nie wieder etwas von dem Ganzen hören
Nachdem das Ganze also sein Ende fand, habe ich den Text eingeschickt. Tema war übriges: Liebe, Geheimnis bz. Ungewissheit. Eigentlich nicht wirklich mein Themenbereich. Mal abgesehen von Ungewissheit.
Nachdem ich ihn also endlich abgeschickt hatte – kam die Nachricht: Sie sind nicht Teilnahme-berechtigt – sie sind nicht in Deutschland wohnhaft. Ich habe nachgesehen. Es stand nicht in den Teilnahmebedingungen – nach meiner Einsendung haben Sie’s dann ergänzt.
Na ja, es trainiert den Schreibmuskel. Genau dafür mache ich ja solche Wettbewerbe. Um etwas zu schreiben, womit ich mich sonst nie befasst hätte.
Schluss und endlich mochte ich die Geschichte. Ob sie es wohl geschafft hätte? Wer weiss.
Ihr könnt mir ja im Kommentar schreiben, was ihr meint.
Und damit sie nicht einfach im Äther verschwindet, hier für euch:
Briefe an Madeleine
Meine liebste Madeleine,
Der Frühling geht durchs Land. Die Bauern holen ihre Maschinen aus den Scheunen, die Vögel sind aus dem Süden zurück und pfeifen am Morgen schon wieder so laut, dass man nicht schlafen kann.
Aber das wollten du und ich ja auch nie. Nicht wahr?
Im Dorf hat sich kaum etwas verändert. Fräulein Sofie ist aus der Stadt zurück und träg die neuste Mode. Sie ist nun doch nicht verheiratet. Der Freund aus der Stadt, der Uhrenverkäufer, von dem ich dir geschrieben habe, hat sie nun doch nicht ehelichen wollen. Er habe nur Uhren im Kopf, sagt sie.
Frau Sandra und Frau von Wittenbach zerreissen sich das Maul hinter ihrem Rücken und meinen, sie sei keine grosse Opernsängerin mehr, sie müsse sich jetzt auch mit dem zufrieden geben, was sie bekomme und sie müsse ja auch mal an den Olaf denken. Wie lange soll der arme Junge noch ohne Vater sein? Doch Fräulein Sofie lässt sich von ihrem Gerede nicht stören. Sie hat sich nicht verändert. Sie ist etwas älter geworden und raucht weniger. Sie und ihre Mutter streiten sich immer noch - als Kinder haben wir sie oft sogar auf der Strasse vor ihrem Haus gehört - Weisst du noch? Aber inzwischen ins es weniger geworden.
Fräulein Sofies Sohn Olaf, kommt im Sommer in die dritte Klasse. Kannst du dir das vorstellen? Der kleine Olaf, den alle für sonderlich gehalten haben, ist ein richtiger Junge geworden. Er ist richtig frech und stellt allerleih Unsinn an.
Doch eigentlich haben Sie ihn alle gern, den Olaf. Besonders die Sandra, die Tochter vom Bürgermeister.
Neulich erst, hat man sie beim Küssen erwischt, hinter der grossen Scheune vom alten Martin. Da wo sie alle hingehen, wenn sie sich heimlich küssen.
Dort wo auch du und ich uns zum ersten Mal geküsst haben. Erinnerst du dich noch Madeleine? Gleich beim Tulpenbeet von der alten Muriel, der Schwester von alten Martin. Die Tulpen sind übrigens besonders schön dieses Jahr, hab ich gesehen.
Der grosse Holunderbaum, bei Tulpenbeet blüht bald. Er ist so voll von Blüten, dass es richtig gute Ernte geben muss. Muriel hat schon Gläser bereitgestellt. Damit sie dann auch Konfitüre verkaufen kann. Und vom Geld will sie auch so einen Hut kaufen, wie Fräulein Sofie ihn hat. Aber einen anständigen. Für Sonntag in die Kirche. Man munkelt sie träfe sich heimlich zum Tee, mit dem alten Pfarrer. Kannst du dir das vorstellen? Das hätte sie schon früher machen sollen – damals als wir sie als Kinder heimlich beim Spaziergang beobachtet haben.
Es hat sich kaum was verändert. Nur dass wir jetzt erwachsen sind und unsere Kinder jetzt heimlich hinter der Scheune küssen und nicht mehr wir.
Susi, die mit dir damals zur Sonntagsschule ist, hat diese Woche geheiratet. Den Sepp. Der immer die Kirschen geklaut hat von der alten Ruth. Sie ist jetzt 98 aber daran erinnert sie sich noch gut. Sie war gar nicht begeistert, als der Peter, ihr Sohn den Sepp angestellt hat. Aber er ist schon in Ordnung.
Lisa hat den Sam genommen. Elisabeth den Tim. Und Berta den Urs. Jan und Greta haben sich getrennt, aber letzte Woche habe ich gesehen wie sie Händchen gehalten haben. Also wer weiss.
Ich erinnere mich gut dran, wie wir das erste Mal Händchen gehalten haben. Weisst du noch? Heiss war es, viel zu heiss zum Händchen halten, aber ich war halt so nervös und wollte es mich jetzt endlich trauen, nach dem es der Tim schon gemacht hat. Du hast gesagt: Spinnst du eigentlich! Bei dieser Hitze! Und hast mir dann die Hand hingehalten und dann hab ich sie den ganzen Sommer nicht mehr los gelassen.
Mutter hat letzte Woche gesagt ich soll doch Petra - du weisst die Tochter vom Bürgermeister - ausführen. Dann ist die Petra mit dem Gustav im Auto gefahren und Mutter hat nichts mehr dazu gesagt.
Frau Sandra und Frau von Wittenbach fragen schon öfters, wann ich denn endlich heiraten werde. Und das Lisbeth doch frei wäre. Die Tochter vom Pfarrer. Sie ist im Moment auf der Mädchenschule. Aber ich könnte mich doch schon mal beim Pfarrers vorstellen.
Ich weiss nicht ob ich das machen soll. Pfarrers haben sehr schlechten Café. Erinnerst du dich? Wir waren nach der Sonntagschule immer eingeladen, du und ich, weil wir so brav waren, dachten sie zumindest. Dabei haben wir zwei heimlich geraucht hinter der Scheune und wir haben den Café, wenn Pfarrers nicht geschaut haben in die Blumenvase gegossen. Und Pfarrers haben sich immer gefragt, warum die Blumen so schnell welken.
Mandeleine, ich vermisse dich. Manchmal denke ich, wie es wäre, wenn du einfach wieder da stehen würdest. Mit deinem rosaroten Fahrrad und den blonden Zöpfen.
Ich bin letzte Woche an dem Haus vorbei gekommen. An dem Haus wo wir immer gesagt haben, werden wir wohnen, wenn du und ich mal gross sind. Es sieht jetzt viel kleiner aus, als damals.
Es wohnt wohl bald wieder jemand dort. Es hat lang leer gestanden. Es ist schon gut so.
Aber wird komisch sein, wenn jemand anders dort wohnt und nicht du und ich.
Du wollest halt raus in die grosse Welt – und ich? Ich bin halt noch hier, hier in dem kleinen Dorf wo wir beide als Kinder gelebt haben. Manchmal sehe ich uns beide noch vor mir. Den kleinen Felix und die kleine Madeleine – und alle haben gedacht, dass wir die Ersten sein werden, die einmal heiraten.
Aber die Welt hatte halt anders mit uns vor. Nicht?
So vergeht die Zeit – du bist fort und hier im Dorf verändert sich nichts. Nur du fehlst.
Deinen Eltern geht es gut, ich treffe sie nur noch selten. Aber ich glaube sie sind zufrieden. Wir reden nicht mehr so viel.
Ich frag mich oft wie es dir wohl geht? Seit bald drei Jahren bekomme ich keine Briefe mehr von dir.
Erinnerst du dich noch an uns? An die grosse Scheune – die Tulpen und an mich? Erinnerst du dich noch an unseren ersten Kuss in dem heissen Sommer?
Vielleicht hast du ja keine Zeit zum Antworten, weil du so viel zu tun hast. Ich weiss ja nicht, was du jetzt machst.
Alle sagen, du hast mich längst vergessen, und dass ich doch das Liesbeth ausführen soll. Vielleicht stimmt das ja auch, aber du fehlst mir halt.
Schreib mir doch mal, wenn du Zeit hast.
Ich schreib dir nächste Woche wieder.
Spätestens wenn der Rabs blüht.
Ich liebe dich sehr Madeleine,
Dein
Felix