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  • AutorenbildMichelle Reznicek

Die Definition vom Verrückt-Sein


Heute erzähle ich auch mal wieder eine Geschichte. Offenbar fällt es mir leichter, in Geschichten zu erzählen, was ist denke, als in klaren Aussagen. 😊

Es ist eine kleine Geschichte, die mir letzte Woche passiert ist und mich wieder einmal darüber nachdenken lassen hat, was wir als «Normal» einstufen.

Beispielsweise: Als ich vor wenigen Wochen an einer geöffneten Restaurant-Terrasse vorbeiging, dachte ich zunächst an einen Sitzstreik. So sehr hatte ich mich an diese «Neue Normalität» mit Versammlungsverbot und geschlossenen Restaurants gewöhnt. Daran sieht man, dass Normalität oftmals nur etwas mit den Gerad der Gewohnheit zu tun hat. Wäre ein Grashalm rot, würde es abnormal sein, wären sie alle rot, fiele es uns nicht auf.


Die Definition vom Verrückt-sein


Es ist bereits nach elf, an einem Wochentag in der Stadt Zürich. Das Tram ist nur spärlich besetzt.

Wer noch unterwegs ist, gehört zu der Gruppe der «Abgebrochenen Gestalten». Ein afghanischer Mann pöbelt einen alten dicken Mann an, der in seinem Trenchcoat aussieht wie ein Voyeur. Allerdings bin ich nicht sicher ob es sich um Belästigung oder einen Drogenverkauf handelt.

Ein barfüssiger Obdachloser, mit schwarzen Füssen, durchforstet hie und da den Müll, und wandert in gemässigtem Gang über die Station. Jemand schreit. Eine Frau telefoniert viel zu laut und lallend. Die Türen des Trams, auf das ich gewartet habe, schliessen sich und ich suche mir einen Platz möglichst weit weg von allen.

Sind den wirklich nur noch Verrückte unterwegs? Denke ich mir ärgerlich. Es ist doch erst elf.

Ganz vorne im Tram sitzt eine schwarze Frau mit wilden Locken. Sie sieht elegant aus. Denke ich.

Als das Traum losfährt, die Bahnhofstrasse hab, fängt sie jäh an zu reden. Unvermittelt suche ich mit den Augen ein Telefon. Aber sie hat keines. Ihr Blick ist auf die Schaufester der Bahnhofstrasse gerichtet. Auf die Puppen die dort stehen, im halberleuchteten Schein und mit ihren blinden Gesichtern auf die schwarze Strasse blicken, wie eine Armee die auf den Angriff wartet.

Die Frau im Tram deutete auf sie und ruft: «You too!».


Dann: «I love you!». Sie lacht, heiser und laut. Dann wendet sie den Kopf, als wollte sie die Zustimmung der wenigen Mitfahrenden einfordern. Als sollten wir alle auch ganz laut: «I love you rufen.» Alle werfen ein paar verstohlen Blicke hinaus um zu sehen, was sie sieht, ausser natürlich jenen, die ihr jegliches Recht auf irgendein Wissen abgesprochen haben. Doch wir können nicht sehen, was sie sieht. Nicht jetzt und nicht in jeden andere Moment, den wir die Strasse hinab fahren.

Und plötzlich bin ich ein kleines bisschen neidisch. Vielleicht ist mein Denken von meiner Müdigkeit getrübt, aber ich möchte für einmal, die Welt durch die Augen dieser Frau sehen. Sehen was sie sieht. Verstehen was sie versteht.

Zu so später Stunde, sind nur noch Verrückte unterwegs. Doch in diesem Moment, bin ich nicht die, die anders ist als all die andere? Ist so die Norm nicht umgedreht? Sie sind die Norm und ich bin verrückt?

Schluss und endlich: Ist Verrücktheit nicht nur Definition? Viel zu pauschal? Wäre die Welt nicht ein schrecklicher Ort, wäre nicht jeder auf seine Weise anders und ein bisschen verrückt? Macht diese bisschen Verrücktheit nicht unsere Lebendigkeit aus?

Ich wünsche mir: Ich könnte die Welt durch ihre Augen sehen und ganz laut in die Welt: «I love you» rufen.


PS: Und falls ihr gerade Lust hab, noch ein paar andere Kurzgeschichten von mir oder von anderen zu lesen, findet ihr sie auf «story.one» Viel Spass wünsche ich. 😊

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