Michelle Reznicek
Was? Schon Weihnachten?

Es ist Herbst.
Gerade Mal Ende September, doch deutlicher könnte es nicht sein. Es ist dunkel. Es ist neblig. Es regnet. Es ist Herbst.
Trotzdem, ich mag den Herbst. Es ist eine wunderbare Jahreszeit. Der Frühling besticht mit seinen frühen Blühten und Knospen, noch unverhüllt von jeglicher Blätterpracht, der Sommer strahlt in der reinen Kraft, der Winter verzaubert durch den Schnee und die fast unwirklich anmutenden Schneesterne.
Der Herbst jedoch ist die Zeit des Wandels. Das Grün der Blätter verwandelt sich, in tausenderleih Farben. Der Wind wird stärker und wenn er durch die gelben Bäume fährt, so wirbeln die Blätter davon. Auf und davon. Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Im Sturmwind bewegt alles, als hätte die Welt selbst ihre Form verloren.
Alles reift im Herbst. Es herrscht die reine Fülle. Sei es nun Kürbisse, Maroni, Äpfel, Birnen, Quitten, Trauben, Feldsalat, Baumnüsse oder Pflaumen. Ständig habe ich das Gefühl etwas ernten zu wollen. Konfitüre einzukochen, Kartoffeln einzulagern oder Vorräte anzulegen. Ich besitze keinen Garten und ich bin richtig neidisch auf den Bauern der neben mir wohnt. Auch wenn ich genau weiss, dass seine Arbeit kaum etwas mit meiner romantischen Vorstellung zu tun hat.
Ausserdem ist es natürlich nicht nötig so etwas wie Vorräte anzulegen, in einem Land in dem zu jeder Jahreszeit, alles erhältlich ist. Erdbeeren im Dezember? Kein Problem. Aber ich bin da altmodisch. Ich mag es saisonal. Ich finde Fürchte und Gemüse sind anders, in der Jahreszeit in der sie wirklich reifen. Ausserdem kann ich mich auf sie freuen, wenn sie nicht immer verfügbar sind. Ich freue mich immer, wenn die ersten Spargeln kommen oder die ersten Erdbeeren.
Jedes Jahr freue ich mich darauf die ersten Kürbisse zu sehen. Zu sehen wie sie überall wachsen und immer orangener werden, freut mein Herz.
Und dann die Mandarinen: Ich liebe Mandarinen im Winter. Ich mag sie nicht übermässig gerne essen – wenn es hochkommt, essen ich vielleicht 5 Stück im ganzen Winter. Aber ich liebe sie. Ich liebe es sie in den Händen zu halten, ihren Duft tief einzuatmen und in all den Erinnerungen zu versinken, die sie in mir wecken. Dann erinnerte ich mich immer ganz deutlich daran, wie ich den winterlichen Schulweg ging. Ich erinnere mich an den «Samichlaus» der in die Schule kam. Ich erinnere mich an Winterzirkusse und Weihnachts-Varietés. Ich erinnere mich an Weihnachtslieder. Ich erinnere mich an Föhnstürme. An die giftigen pink-roten Beeren der Tannen vor meinem Zuhause.
Viele beschweren sich über die Dunkelheit und die Kälte, die diese Zeit mit sich bringt. Doch eben diese Dunkelheit, schafft den Raum für das Licht von Kerzen, für die Wärme und Geborgenheit, einer dicken Jacke. Für das Prickeln einer halbabgefrorenen Nase. wenn man einen warmen Raum betritt.
All das liegt für mich in dem Duft einer Mandarine.
Oftmals liebe ich die Vorbereitung auf das Weihnachtsfest mehr als das Weihnachtsfest selbst.
Wenn ich Kürbisse sehe, denke ich immer gleich an Halloween. Es für mich kein richtiges Fest, denn zu meinen Kinderzeiten gabs das bei uns noch nicht. Genau so wie der Valentinstag. Obwohl sich die Konsumgesellschaft schon seit Jahren bemüht, diese Feiertage zu etablieren, gehören sie für mich einfach nicht dazu. Sie sind immer noch «neu» für mich. Und vielleicht werden sie es immer bleiben, bin ich denn nicht gewillt einen Feiertag zu akzeptieren, nur damit die Wirtschaft mehr verkaufen kann. Halloween gehört für mich zu den Amerikanern. So hat ja jedes Land seine eigenen Feiertage. Beispielsweise ist Weihnachten in Japan, mehr ein Fest für Verliebte. Neujahr ist in China am 12. Februar.
Halloween kenne ich eigentlich nur aus amerikanischen Filmen. Ich bin kein Fan von Horror oder vom Erschrecken, bzw. Erschreckt werden. Aber der ursprüngliche Gedanke – die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und die der Geister, sei an diesem Tag so durchlässig das man sich berühren könnte – dieser Gedanke gefällt mir.
Wenn sich im Herbst dann alles so bewegt, die Blätter, die Bäume – alles vom Wind irgendwie davongetragen werden, kann mich mir das schon vorstellen.
Die Welt ist im Wandel. Die Zeit vergeht. Sie fällt mit den Blättern von den Bäumen, und wird mit dem Wind davongetragen.
Ich weiss, es ist gerade erst Ende September. Die meisten denken noch nicht einmal an Weihnachten. Doch als ich heute Morgen vor die Tür bin, da war es nicht Herbst. Es war Winter. Der Duft von Schnee lag in der Luft. Es war dunkel – als würden wir jeden Moment Christbaumkugeln aufgehängt.
Es ist schon seltsam dieses Jahr. Nicht nur dass die Letztjährigen «Weltmeister» nun einfach ein Jahr länger «Weltmeister» geblieben sind. Nicht weil dieses Jahr verflogen ist, ohne dass man es bemerkt hat. Nicht weil wir inzwischen bei 1000 000 000 Todesopfer angekommen sind. Eine sehr traurige Statistik die mir letztens von Radio genannt wurde. Es ist diese Gegenüberstellung. Menschen die gestorben sind – gegenüber Menschen die nicht einmal Kurzarbeit hatten. Menschen die ihre Existenz verloren haben zu Menschen, die eigentlich die beste Zeit ihres Lebens hatten. Menschen die ihr Hab und Gut verlieren zu Menschen die ihren Garten umgestalten und dessen grösstes Problem war, dass sie keine Blumentöpfe kaufen konnten – im ersten Monat wohlgemerkt.
Viele haben nach dieser Zeit sogar mehr Geld als sonst. Denn da viele Kurzarbeitsentschädigung bekommen haben – aber zugleich keine Möglichkeit hatten Geld auszugeben, ist am Ende eigentlich mehr übriggeblieben.
Die neuen Regeln, sind für mich schon Gewohnheit geworden. Gerade die die im Hauptbahnhof gelten. Schon schaue ich zuerst auf den Bildschirm in der Migros – der anzeigt ob ich reindarf oder nicht. Schon bin ich gewohnt mit in eine Schlage zu stellen. Schon bin ich gewohnt eine Maske zu tragen wo ich auch hin gehen.
Ich weiss, es wird nicht lange gehen, wenn es dann vorbei ist, bis dies alles vergessen wird. Nach einiger Zeit werden wir nicht mehr wissen, dass es überhaupt gewesen ist.
Doch ungewohnt bleib für mich die Armada von Maskierten Menschen, die mir entgegentreten.
Doch kommt es mir fast so vor, als würden in letzter Zeit, mehr Menschen mir richtig ins Gesicht schauen. Nun da wir nur noch unsere Augen sehen, scheinen wir es plötzlich interessiert daran zu sein, zu sehen, wen wir eigentlich anschauen. Wir schauen sehr konzentriert auf die Augen des anderen, denn nun können wir die Emotion nur noch dort lesen.
Letzthin hatte ich einen flüchtigen Blickkontakt mit einem fremden Menschen. Ich lächle oftmals, wenn ich jemandem ins Gesicht sehen. Und plötzlich sah ich wie die blauen Augen über der Maske – sich zu einem Lächeln formten. Ich war völlig überrascht das das möglich war, das das Lächeln hinter der Maske, von einem Gesicht zum anderen wandern kann.
Die Maske nimmt uns nicht so viel wie wir vielleicht denken.
Vielleicht erinnert sie uns auch daran, was wertvoll ist.