Michelle Reznicek
Willkommen auf dem Partyschiff 2020 nach nirgendwo
Aktualisiert: 26. Juli 2020

Der Lockdown ist zu ende, doch von Normalität ist in meinem Beruf noch nichts zu spüren. Nach dem alles wieder «geöffnet» hat, sind Veranstaltungen noch immer die Seltenheit.
Und schon wieder befinde ich mich in meinem persönlichen Elsass, und harre der Dinge die da kommen werden, wie Napoleon. Ein Mann mit dem ich einige Dinge gemeinsam habe. Eine mangelnde Körpergrösse –Legasthenie und den Wunsch in Frankreich einzufallen. Die Sommerferien haben begonnen und ich befinde mich in einer zwangsweisen Arbeitspause. Na gut. Arbeit habe ich ja. Sie wird nur nicht bezahlt.
Zur gleichen Zeit sehe ich praktisch nur noch Menschen mit Rucksäcken und Koffern. Es ist seltsam, dass gleich nach den Zwangsferien die richtigen Ferien anfangen und offenbar die ganze Welt verreist.
Im Moment wäre ich gerade in Friedrichshafen – am Kulturufer. Einen Kulturfestival am Bodensee. Heute hätte es gestartet. Ohne die Pandemie, wäre ich wäre bereits seit zwei Wochen dort und würde heute voller Ungeduld und Vorfreude hinunter gehen zur Seepromenade, um in der «Künstlerküche» Abend zu essen und die erste Vorstellung zu besuchen. Um 20.00 Uhr gings los. Vielleicht wären wir danach ganz nach vorne spaziert zur Gelateria, hätten ein Eis gegessen und hätten auf den nächtlichen See hinausgesehen, währende Hunderte von Menschen zwischen den Lichtern der Stausteller-Stände herum wandeln. Überall Artisten auf der Strasse, die die Leute anlocken. Die Stimmung des Nachts ist kaum zu beschreiben.
Stattdessen sitze ich noch immer am Küchentisch, schauen in den verhangenen Himmel und höre von Yael Naim «Paris».
Paris, auch so ein Ort an dem ich jetzt sein könnte. Eigentlich wäre ich diesen Januar hingefahren. Doch durch die vielen Demonstrationen, war es so unsicher, ob der Zug fahren würde, die Vorstellungen stattfinden und ob überhaupt das Metrosystem funktionieren würde – dass wir nicht gefahren sind.
Letzte Woche haben wir noch darüber diskutiert, ob wir nun nächste Woche in nach Frankreich zu einem Freund fahren, der dort – sehr weit ausserhalb wohnt. Er hat ein paar von unseren Wagen übernommen – und es wäre die Gelegenheit sie ihm zu bringen – und ein paar Tage zu bleiben. 50 Kilometer von dort wo er wohnt, ist das Meer. Auch so ein Meer das ich noch nie besucht habe. Doch Frankreich hat gerade neuen Notstand ausgerufen – oder angedroht. Die Möglichkeit, dass wir nicht so bald, zurück kommen ist leider zu gross um es zu riskieren. Auch wenn ich es noch verführerisch fände endlich richtig französisch zu lernen. Die wenigen Veranstaltungen die wir noch machen dürfen, möchte ich trotzdem nicht versäumen.
Wenn ich mal eine Zeitung aufschlage, oder über Google etwas suchen, dann lese ich zum Hundertsten mal die Todeszahlen und Ansteckungsstatistiken. In meinem Kopf stapelt sich die Zahlen ins Unendliche. Es gibt nur zwei Arten von Statistik: die die auf Drama machen und die die so sachlich sind, dass man keine Ahnung mehr hat, was sie bedeuten sollen.
Gleichzeitig gehen hunderte von Menschen in die Ferien. Sie fliegen nach Hawaii oder nach Mallorca – als wäre nichts. Währenddessen droht es mit einer «Zweiten Welle» und «Wirtschafts- kollabieren» und «Lockdowns». Und ebenfalls zur gleichen Zeit reden sie darüber, welche Länder ihre Krankheits-Zahlen fälschen um besser da zu stehen. Wie Russland und China. Und ich frage mich: Ist die ganze Welt verrückt geworden? Denken dieses Menschen ehrlich, das Lügen sie weiterbringt? Egal ob Corona oder Klimawandel?
Ist die Welt nur noch ein Partyschiff, besiedelt von besoffenen Mallorca Besuchern, das ganz langsam, aber beständig untergeht? Wie weit sind wir noch von dem Kreuzfahrtraumschiff vom Film «Wali der Letzte räumt die Erde auf» entfernt?
Warum dürfen gesittete Kulturvorstellungen nicht stattfinden, aber in Clubs wo man sich praktisch nicht umdrehen kann vor Enge, darf man tanzen gehen? Warum ist die Maskenpflicht so ein Drama? Warum kann man nicht einfach, sich ein paar Wochen lang an Regeln halten, die uns alle schützen sollen? Danach wäre es vorbei. Kurz und heftig, anstatt endlos. Gebt es endlich auf. Unsere Mutter wird nicht kommen und mit uns schimpfen, wenn wir uns daneben benehmen. Wir sind gross geworden - und müssen uns selbst an der Nase nehmen.
Was denken die hantierenden Politiker was ihnen lügen bringt? Wenn ich mich recht erinnere ist auch Doping nicht erlaubt. Dopt man damit nicht die Zahlen irgendwie? Ausserdem ist das hier doch kein Schönheitswettbewerbt wo man am «besten» aussehen will.
Wann werden wir endlich mal erwachsen, hören auf Schuld bei den andere zu suchen und stehen für unsere eigenen Taten gerade? Wann lernen wir, dass es nicht mehr bringt, das zu sagen, was wir gerne hätten, anstelle von dem was wahr ist?
Aber– vielleicht ist das Schiff schon zu lange unterwegs, als das wir noch sehen, wo wir eigentlich hinfahren.
Schiff ahoi, wir haben abgelegt – wir werden sehen wo hin wir segeln.